FALLSTUDIE Kommerzielle Schifffahrt

Neuer Seenotrettungskreuzer für die Rettungsstation Sassnitz, Rügen

Veröffentlicht am 28 November 2016

Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger modernisiert ihre Flotte. Nach 34 Jahren im Dienst wird der Seenotrettungskreuzer „Wilhelm Kaisen“ ausgemustert. Auf seine Stelle folgt ein 36,5 Meter langer, 7,8 Meter breiter und 25 Knoten schneller Seenotrettungskreuzer: „Harro Koebke“. Im Einsatz zur Rettung Schiffbrüchiger und Kranker ist er das neueste Schiff der Flotte. Sein Einsatzgebiet: Die Ostsee zwischen Kap Arkona, den berühmten Kreidefelsen und der Greifswalder Oie. Sein Hafen: Sassnitz auf Rügen. Das neue Schiff hat — wie bereits sein Vorgänger — mtu-Motoren.
Details

Wer

Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS)

Was

Neuer Seenotrettungskreuzer für die DGzRS mit drei mtu-Motoren der Baureihe 4000 und dem Automationssystem Callosum

Wie

Modernisierung der DGzRS-Flotte

Wo

Ostsee, zwischen Kap Arkona und Greifswalder Oie

Sassnitz, Rügen — Raus aus dem Sassnitzer Hafen, vorbei an Europas längster Mole, hinaus auf die Ostsee in Richtung der berühmten Kreidefelsen: Der Seenotrettungskreuzer „Harro Koebke“ geht auf Kontrollfahrt. Vorne auf der Brücke des weißen Schiffes mit den zwei roten Pfeilen am Bug links und rechts stehen Vormann Hartmut Mühlwald und die zwei Nautiker Dirk Neumann und Jörg Bollnow. Mühlwald kontrolliert mit seinem Fernglas die Segler in der Umgebung. Bollnow überwacht das Radar, Neumann steuert die „Harro Koebke“. Im Hintergrund an einem Computer sitzt Manfred Lucas, der 1. Maschinist. Er überprüft über das Automationssystem Callosum die Drehzahl der drei mtu-Motoren. Jedes Besatzungsmitglied hat einen eigenen Platz auf der Brücke. Auf fünf Monitoren sehen die Seenotretter Radar, elektronische Seekarten, Betriebszustände sowie Wärmebild- und Nachtsichtkamera. Auf der Brücke befindet sich der Hauptfahrstand, außerhalb sind links und rechts zwei Manövrierfahrstände.

Mit mtu-Motoren volle Kraft voraus


Drei mtu-Motoren der Baureihe 4000 — ein 16-Zylindermotor und zwei 8-Zylindermotoren — sorgen für die nötige Leistung des Seenotrettungskreuzers. Die Mittelmaschine vom Typ 16V 4000 M71 erzeugt 2.465 Kilowatt Leistung (3.352 PS), die beiden Seitenmaschinen vom Typ 8V 4000 M70 jeweils 1.160 Kilowatt (1.577 PS). Die Motoren wirken über je eine Welle auf die Festpropeller. Eine Kontrollfahrt ist für die MTUMotoren die Idealsituation. Die Maschinen werden stufenweise auf volle Leistung hochgefahren. Im Einsatz geht das nicht. Dann müssen sie schnell die volle Leistung bringen. Deshalb sind die Motoren im Maschinenraum immer vorgewärmt. Ertönt das Alarmsignal, werden sie gestartet. Sobald das Schiff das Hafenbecken hinter sich gelassen hat, schiebt der Vormann den Fahrhebel auf volle Kraft. Das setzt voraus, dass die mtu-Motoren absolut zuverlässig sind und eine hohe Leistung bringen.
Die Crew ist zufrieden mit den mtu-Motoren: „Das sind schon gute Maschinen“, meint Lucas, der 1. Maschinist. Trotzdem haben die drei Motoren aus seiner Sicht einen kleinen Makel: „Inzwischen besteht so ein Motor zu 50 Prozent aus Elektronik, da gibt es nicht mehr viel, was man selbst reparieren kann.“ Natürlich genießt er auch die Vorteile der Elektronik, zum Beispiel des Automationssystems Callosum. Callosum überwacht und steuert sowohl die Antriebsanlagen als auch die schiffsseitigen Systeme. Es regelt die Antriebsanlagen, was besonders bei schnellen Einsatzstarts wichtig ist, und passt die Beschleunigung und das Fahrverhalten optimal an die Anforderungen an. Außerdem stellt Callosum sicher, dass alle schiffsseitigen Systeme wie Tank, Bilgen, Heizungs- und Lüftungsanlage jederzeit funktionieren. Zwei Hilfsdieselmotoren und eine biologische Wasseraufbereitungsanlage machen den Maschinenraum komplett. Mit der biologischen Wasseraufbereitungsanlage wird die DGzRS den steigenden Umweltanforderungen gerecht.

Die Flotte der DGzRS: 30 mtu-Motoren im Einsatz


Die „Harro Koebke“ ist die zweitgrößte Einheit der 60 Schiffe starken DGzRS-Flotte. Größer ist nur die „Hermann Marwede“, ein Schiff der 46-Meter-Klasse. Zwei mtu-Motoren vom Typ 12V 4000 M90 sowie ein mtu-Motor des Typs 16V 4000 M90 treiben den größten der Seenotrettungskreuzer an. Insgesamt sind in der Flotte der DGzRS 30 mtu-Motoren der Baureihen 396 und 4000 im Einsatz. Sie treiben die Schiffe der 23- bis zur 46-Meter-Klasse an. Rund 30 Jahre ist ein Seenotrettungskreuzer im Dienst, bevor er aus wirtschaftlichen Gründen ersetzt wird.
Planung und Bau der „Harro Koebke“ haben rund fünf Jahre gedauert. 2009 starteten die Konstruktionsarbeiten des Seenotrettungskreuzers bei der Fassmer-Werft in Berne. Im November 2011 wurden die mtu-Motoren eingebaut. Das Schiff wurde in der Netzspantenbauweise, bestehend aus Längs- und Querspanten gebaut. Diese Bauweise gibt dem Schiff die nötige Festigkeit. Gleichzeitig reduziert die Bauweise aus seewasser- beständigem Aluminium von Rumpf, Deck und Aufbauten das Gewicht des Seenotrettungskreuzers. Wie alle Seenotrettungskreuzer ist auch die „Harro Koebke“ als Selbstaufrichter konzipiert. Der neue Seenotrettungskreuzer ist nach einem inzwischen verstorbenen süddeutschen Unternehmer benannt, der dem Rettungswerk in seinem Nachlass eine namhafte Spende vermacht hat. Im Übrigen ist die gesamte Flotte der DGzRS allein durch Spenden finanziert.
Da es ein ruhiger Tag auf der Ostsee ist, testet die Crew während der Kontrollfahrt auch die Feuerlöschpumpe. Dazu hält Nautiker Neumann den Seenotrettungskreuzer an, die Motoren hören auf zu arbeiten. Dann dreht Neumann die Mittelmaschine auf. „Jetzt sind wir bei voller Drehzahl, 2.000 Umdrehungen“, erklärt Lucas. Mit 600 Kubikmetern pro Stunde und einer Reichweite von 110 Metern schießt das Wasser aus dem Monitor der Feuerlöschpumpe auf dem Peildeck über der Brücke. Mit der Funkfernbedienung testet die Besatzung das Schwenken des Monitors. Sie drehen nach links und rechts und oben und unten. Alles funktioniert perfekt, so dass die Crew ihre Übung einstellt und die Fahrt wieder aufnimmt.

Beste Voraussetzung zur Rettung Schiffbrüchiger


Mit einer fest installierten Wärmebild- und Nachtsichtkamera kann die Crew mögliche Opfer auf See suchen. Ist das Opfer gefunden, bergen sie es mit dem Tochterboot, das im Heck des Seenotrettungskreuzers untergebracht ist. Das Festrumpfschlauchboot mit geschlossener Kajüte erreicht eine Höchstgeschwindigkeit von 32 Knoten. Zurück an Bord versorgt der Rettungssanitäter oder ein Arzt das Opfer im Bordhospital. Es ist für den Notfall bestens ausge- rüstet: Vom Arztkoffer über Sauerstoffflaschen bis hin zu Wärmedecken, Defibrillator und EKG ist alles vorhanden. Bei schlimmeren Unfällen kann ein Rettungshubschrauber auf dem an Bord befindlichen Hubschrauberarbeitsdeck mit einer Winde einen Arzt ab- oder einen Patienten aufwinschen und schnell zurück ans Festland fliegen. Da nicht immer ein Arzt verfügbar ist, ist mindestens ein Crew-Mitglied an Bord Rettungssanitäter. Zudem besuchen alle Männer der Besatzung regelmäßig Erste-Hilfe-Kurse und andere Lehrgänge zur Rettung Schiffbrüchiger.
Ein Notfall erreicht den Seenotretter immer über die Seenotleitung in Bremen. Wenn die „Harro Koebke“ auf Kontrollfahrt geht, meldet sie sich dort ab. So kann die Seenotleitung genau bestimmen, wann der Seenotretter wo sein kann oder ob es besser ist, ein Schiff von einer anderen Station zu schicken. Pro Jahr übernehmen die Sassnitzer Seenotretter zwischen 60 und 80 Rettungseinsätze und Krankentransporte. Insgesamt fahren etwa 180 fest angestellte und rund 800 ehrenamtliche Seenotretter mit den 60 Seenotrettungskreuzern und -booten zwischen der Emsmündung im Westen Deutschlands und der Pommerschen Bucht im Osten über 2.000 Einsätze — rund um die Uhr, bei jedem Wetter. Allein im Jahr 2011 haben die DGzRS-Besatzungen bei 2.106 Einsatzfahrten 1.323 Menschen aus Seenot gerettet und aus drohenden Gefahrensituationen auf See befreit.

Seenotrettungskreuzer als Zuhause


Zur Crew des Seenotrettungskreuzers gehören elf Mann. Fünf davon sind jeweils 14 Tage im Einsatz auf der „Harro Koebke“. Fünf Kammern für jedes diensthabende Besatzungsmitglied, sanitäre Einrichtungen, eine Messe sowie die Kombüse machen den Seenotretter „Harro Koebke“ zu einem geräumigen Zuhause. Das ist wichtig, denn in den 14 Tagen sind die Seenotretter rund um die Uhr im Dienst. Sie dürfen das Schiff nur für kurze Wege verlassen und müssen immer erreichbar sein. Die tägliche Routine wie Wartungsarbeiten oder Küchendienst und die ständige Wachsamkeit für einen Einsatz sind der Alltag an Bord.
Den Seenotrettungsdienst in Sassnitz gibt es schon seit 1873. 1912 bekam die Station ihr erstes Motorrettungsboot — genau 100 Jahre vor der „Harro Koebke“.