STORY Kommerzielle Schifffahrt

Hals über Kopf

Veröffentlicht am 24 Juli 2014 von Lucie Maluck, Bilder von Thilo Vogel

mtu-Motoren können Kopf stehen und laufen trotzdem weiter. Die holländische Seenotrettungsgesellschaft KNRM hat das getestet.
IJmuiden, Netherlands

Wellen, die höher sind als ein Einfamilienhaus. Peitschender Regen. Kälte. Ein Wetter zum „in-den-Hafen-Fahren“. Die Rettungsboote der Niederländischen Seenotrettungsgesellschaft KNRM müssen oft genau bei diesem Wetter raus und Menschen von Schiffen retten, die es nicht mehr in den Hafen geschafft haben. Um diesen Bedingungen künftig noch besser zu trotzen, testet die Crew in IJmuiden bei Amsterdam gerade ein neues Schiff. Die Nh 1816 ist mit mtu-Motoren ausgestattet, die sogar dann weiterlaufen, wenn das Schiff auf dem Kopf steht und durchkentert. Ein Einsatz, der auf der Welt fast einmalig ist.

Ist das ein Traumjob? Dann, wenn es draußen kalt ist und stürmt aus seinem kuscheligen Bett oder vom gemütlichen Sofa aufzustehen, hinaus in die Kälte zu laufen, auf ein Schiff zu steigen und durch die Wellen hinaus aufs offene Meer zu fahren? Ungemütlicher geht es eigentlich nicht mehr. Doch Leendert Langbroek liebt genau das. Er ist Skipper bei der Niederländischen Seenotrettungsgesellschaft, der Koninklijke Nederlandse Redding Maatschappij (KNRM). Wie häufig er nachts schon vom kräftigen „Beeep“ seines Piepsers aus dem Bett gerufen wurde, um auf hoher See Menschen zu retten, kann er nicht mehr sagen. Seit 20 Jahren ist er Skipper. „Sein“ Boot ist die Koos van Messel, ein Allwetter-Schiff der Arie-Visser-Klasse, mit dem er zusammen mit seiner Crew Menschen, die in Seenot geraten sind. Dann hat er genau zehn Minuten Zeit, um aus dem Bett zu springen, sich anzuziehen, zum Hafen zu fahren und die vorgewärmten Motoren des Schiffes zu starten. Von der Station im Niederländischen IJmuiden fährt er dann zusammen mit seiner fünfköpfigen Crew hinaus aufs offene Meer. Dort ziehen sie manövrierunfähige Segelboote an Land, helfen kranken Personen auf Frachtern oder anderen Schiffen, suchen Taucher oder retten Kitesurfer, die nicht mehr zurück ans Ufer kommen.

Leendert Langbroek ist Skipper bei der holländischen Seenotrettungsgesellschaft RNLI. Er testet derzeit das neue Schiff Nh 1816, mit dem die KNRM die Schiffe ihrer Ari-Visser-Klasse ersetzen will.

Kopf stehen und weiterlaufenEigentlich ist Leendert Langbroek schon in Rente gegangen. Doch einen erfahreneren Skipper als ihn gibt es bei der KNRM nicht. Daher holte die Gesellschaft ihn für eine ganz besondere Aufgabe zurück an Bord: Er soll ein neues Schiff testen. Die Nh 1816. Wenn die sich bewährt, soll sie die Koos van Messel und dessen Schwesterschiffe der Arie-Visser-Klasse bei der KNRM ersetzen. Es ist das erste Schiff dieser Klasse bei der KNRM, das von der Werft Damen gebaut wird und mtu-Motoren an Bord hat. Zwei Achtzylinder-Dieselmotoren der Baureihe 2000 mit jeweils 895 Kilowatt Leistung treiben das 19 Meter lange Schiff über zwei Waterjets an zu einer Höchstgeschwindigkeit von maximal 33 Knoten (61 Stundenkilometer). Sie sind in zwei wasserdichten, getrennten Maschinenräumen untergebracht. Doch der eigentliche Clou: Die Motoren laufen auch dann weiter, wenn das Schiff kentert und sich um die eigene Längsachse dreht. „Das konnten die Motoren unserer anderen Schiffe nicht“, erzählt Leendert Langbroek. Einmal sei er mit dem Vorgängerschiff durchgekentert. Die Motoren seien danach ausgefallen und das Schiff lag manövrierunfähig zwischen den Wellen. Da auch das Cockpit mit Wasser vollgelaufen war, funktionierten die Computersysteme auch nicht mehr. Da wurde der Retter selbst zum Notfall und daraus hat die KNRM gelernt. Bei der Nh 1816 sind alle Computersysteme wasserdicht.

Zwei Achtzylinder-mtu-Motoren der Baureihe 2000 treiben die Nh 1816 mit je 895 Kilowatt Leistung an. Sie sind in zwei wasserdichten, getrennten Motorräumen untergebracht. Fällt ein Motor aus, kann der andere das Schiff weiter beschleunigen.

„Sie ist schon ein tolles Schiff“, sagt Leendert Langbroek über die Nh 1816, ohne dabei euphorisch zu sein. Das ist auch nicht seine Art. Ob Leendert Langbroek überhaupt aus der Ruhe zu bringen ist, weiß man nicht. „Ruhig und überlegt“ beschreiben ihn seine Kollegen. Die trifft er heute Abend, denn einmal in der Woche kommt die Crew um Skipper Leendert Langbroek zur Übung zusammen. Es wird eine der ersten Übungen mit dem neuen Schiff sein. Seit ein paar Monaten liegt sie schon in IJmuiden vor Anker, doch bisher wurde sie fast nur für Testfahrten und nicht für Übungen genutzt. „Die Koos van Messel hat sich bei Wind und Wetter bewährt, das muss das neue Schiff erst mal leisten“, so Jaap van der Laan. Der Mittfünfziger ist Operational Inspector der KNRM-Station in IJmuiden und zudem als Freiwilliger bei Einsätzen dabei. Er ist als Erster zur heutigen Übung erschienen und wartet nun zusammen mit Leendert Langbroek auf die Kollegen.
 

Die Nh 1816 soll das neue Flaggschiff der KNRM werden. Es ist das erste Schiff der holländischen Seenotrettungsgesellschaft, das von mtu-Motoren angetrieben wird.
Einmal in der Woche treffen sich die Volunteers der KNRM, um für Rettungseinsätze zu üben.

Herzinfarkt an Bord


Langsam fahren die fünf hinaus aus dem Hafen von IJmuiden. Die Abendsonne scheint, Wellen sind nicht zu sehen. Es sieht nach einer entspannten Übung aus. Dann gibt Skipper Leendert Langbroek plötzlich Gas. In der Ferne hat er ein Frachtschiff entdeckt. Er lässt die zwei MTUler im Motorraum richtig arbeiten und steuert das Schiff mit 33 Knoten Höchstgeschwindigkeit an. Laut ist es an Bord aber dennoch nicht. „Auch wenn ich richtig Gas gebe, ist es im Cockpit der Nh 1816 20 Dezibel leiser als in der Koos van Messel“, erzählt Leendert Langbroek.
Ton Haasnoot, der heute für die Kommunikation zuständig ist, entdeckt den Namen des Frachters, es ist die Thorco Copenhagen. Per Funkspruch informiert er den Kapitän des Frachters, was die Crew der Nh 1816 vorhat. Ganz nah fahren sie seitlich an den Frachter heran und fahren langsam neben ihm her. Ein paar Zentimeter nur liegen zwischen der Nh 1816 und der Thorco Copenhagen. „Das ist die Kunst unseres Skippers“, sagt Ton Haasnoot und erklärt, warum sie diese Übung machen. „Von dieser Entfernung aus kann unsere Crew auf den Frachter steigen, um dort eventuell Erste Hilfe zu leisten“. Vorgekommen sei das schon oft. Er erinnert sich an einen Hilferuf, bei dem der Kapitän eines Frachters auf der Nordsee plötzlich starke Schmerzen am Herz hatte. Die Crew um Skipper Leendert Langbroek kam gerade noch rechtzeitig, um dem Mann zu helfen. Er hatte einen schweren Herzinfarkt und überlebte nur dank der KNRM.

Mann über Bord


Weiter geht die Fahrt der Nh 1816. Als das Ufer kaum mehr zu sehen ist und die Abendsonne sich traumhaft schön im Wasser spiegelt, steht die nächste Übung auf dem Programm: Jaap van der Laan und Bas Tol machen sich an Deck des Schiffes bereit für ihren Sprung ins Wasser. Die Vorfreude steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Ohne zu zögern springen sie ab und landen in der eiskalten Nordsee. Doch die beiden scheinen dank ihres Anzuges überhaupt nicht zu frieren. Im Gegenteil: Sie winken fröhlich und genießen das Bad in den Wellen. Skipper Leendert Langbroek dreht ein paar schnelle Kreise um die beiden, damit die Wellen im Inneren des Kreises verschwinden. Währenddessen zieht sich auch Ton Haasnoot seinen Rettungsanzug an. Er soll die beiden retten, scheint aber die Ruhe weg zu haben. „Eile bringt nichts“, sagt er ruhig, während er die Haube aufsetzt. Dann ist es so weit: Mit geübten Handgriffen senkt er die Trage am Bug des Schiffes und wirft den beiden ein Tau zu. Jaap van der Laan ist der Erste, der es ergreift. Er zieht sich selber an das Schiff heran und greift nach der Hand von Ton Haasnoot. Dessen Anstrengung sieht man nun doch im Gesicht. Er zieht seinen Kollegen auf die Trage und fährt diese langsam hoch. Mit einem Lachen im Gesicht steht Jaap van der Laan auf, schüttelt sich kurz und schaut dann zu, wie sein Kollege auch Bas Tol aus dem Wasser zieht.

Kentern nur mit Kran


Und was kommt jetzt? Übt die Crew jetzt auch das Durchkentern? „Nein“, sagt Skipper Leendert Langbroek, der die ganze Übung hindurch konzentriert am Steuer stand. Um bei so wenig Wellen zu kentern, bräuchte man schon einen Kran. Einmal haben sie das schon gemacht, damit auch die Crew weiß, wie es sich anfühlt, wenn das Schiff plötzlich kopfsteht. Die Motoren seien damals nicht weitergelaufen, da das Schiff zu langsam durchgekentert ist. Um die Motoren zu schützen, werden diese abgestellt, wenn das Durchkentern länger als 30 Sekunden dauert. Sie können danach aber problemlos wieder gestartet werden. Aber wenn es draußen wirklich stürmisch ist und die Wellen weit höher als das Boot sind, dann würde die Nh 1816 in nur wenigen Sekunden durchkentern. Und dann laufen auch die Motoren weiter. „Dass sie das können, wissen wir nicht nur von unseren Kollegen der britischen Seenotrettungsgesellschaft RNLI, deren Zehnzylinder-Motoren von mtu ebenfalls speziell für das Durchkentern ausgelegt wurden. Wir haben es auch auf dem Prüfstand bei MTU Benelux schon gesehen“, sagt Jaap van der Laan überzeugt.

 

Bas Toll, Ton Haasnoot, Skipper Leendert Langbroek und Jaap van der Laan (v.l.) freuen sich über die geglückte Übung auf ihrem neuen Schiff Nh 1816. Ob dies die Schiffe der bewähr-ten Arie-Visser-Klasse ersetzen wird, wissen sie noch nicht. Noch muss der Prototyp viele Tests bestehen. Im Bild fehlt Richard van der Hammen, der die Nh 1816 zurück zum Hafen in IJmuden steuert.

Die Nh 1816 hat sich unterdessen schon wieder auf den Weg zum Hafen von IJmuiden gemacht. Richard van der Hammen navigiert, Skipper Leendert Langbroek steuert und die anderen ziehen ihre Rettungsanzüge wieder aus. Die Nh 1816 läuft, und das sei ein gutes Gefühl. Noch ist sie ein Prototyp und beim Anblick ihres „alten“ Schiffes Koos van Messel kommen sie weit mehr ins Schwärmen. „Mit ihr haben wir schon so viel erlebt, ihr vertrauen wir“, so Jaap van der Laan. Bis die
Nh 1816 das erreicht hat, muss sie noch einige Übungen erfolgreich überstehen. In den nächsten Wochen werden zehn weitere Rettungsstationen in den Niederlanden das neue Schiff kennenlernen. Wenn alle ihr O.K. gegeben haben, will die KNRM weitere Schiffe dieses Typs bestellen.

Bis es so weit ist, werden Leendert Langbroek, Jaap van der Laan, Bas Tol, Richard van der Hammen und Ton Haasnoot noch oft mitten in der Nacht von ihrem Pieper geweckt werden. Dann, wenn es draußen kalt und stürmisch ist, werden sie sich innerhalb weniger Sekunden anziehen, zur Rettungsstation in IJmuiden fahren und aufs Boot springen. Doch sie tun das gerne. Nicht nur, weil sie damit anderen helfen können. „Die KNRM ist Teil unseres Lebens“, sagt Richard van der Hammen. Und die anderen nicken.

Kontakt

Wouter Hoek
Tel.:
+31(78)63957 13
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